Literaturtipp: Stimmung mangelnder Liebe – John Welwood

Literaturtipp:  „Vollkommene Liebe“ – John Welwood – Arbor Verlag

Kapitelauszug: Die Stimmung mangelnder Liebe

 

Es gibt Hunderte von Büchern auf dem Markt, die in der einen oder anderen Form Wege zur Behebung von Beziehungsproblemen anbieten. Einige dieser Techniken können recht hilfreich sein. Aber an einem bestimmten Punkt erweisen sich die meisten Lösungstechniken als Flickwerk, das sich wieder ablöst, weil es nicht auf das eingeht, was an der Wurzel aller zwischenmenschlichen Konflikte und Missverständnisse liegt – sei es nun zwischen Ehepartnern, Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen oder verschiedenen ethnischen Gruppen auf der ganzen Welt. Die verfahrensten Probleme in menschlichen Beziehungen können auf das zurückgeführt werden, was ich die Stimmung von mangelnder Liebe nenne, auf einen tief sitzenden Verdacht, den wir alle in unserem Innern hegen, dass wir nicht einfach nur dafür, dass wir der sind, der wir sind, geliebt werden könnten oder als solcher nicht wirklich liebenswert seien. Diese Grundunsicherheit macht es uns schwer, Vertrauen in uns selbst, in andere Menschen oder das Leben selbst zu haben.
Die Tatsache, dass wir nicht durch und durch wissen, dass wir wirklich geliebt werden oder liebenswert sind, untergräbt unsere Fähigkeit, Liebe frei zu geben und zu nehmen. Das ist die Kernwunde, welche zwischenmenschliche Konflikte und eine ganze Reihe bekannter Beziehungsprobleme verursacht.

Nicht vertrauen zu können, die Furcht zu haben, missbraucht oder abgelehnt zu werden, Eifersucht und Rachsucht zu hegen, defensiv zu mauern, streiten zu müssen, um zu beweisen, dass man Recht hat, sich leicht verletzt oder beleidigt zu fühlen und anderen die Schuld an unserem Schmerz zuzuweisen – das sind
nur einige der Weisen, auf die sich unsere Unsicherheit, ob wir geliebt werden oder liebenswert sind, zeigt.
Die Stimmung von mangelnder Liebe zeigt sich oft in Form von plötzlichen Gefühlsausbrüchen in Reaktion auf jede geringste Beleidigung oder schlechte Behandlung. Es ist, als wäre ein Reservoir an Misstrauen und Groll vorhanden und wartete nur darauf, geöffnet zu werden, was der geringste Vorfall bewirken kann. Selbst teilnahmsvolle und mitfühlende Menschen tragen oft ein ordentliches Maß an mangelnder Liebe und rechthaberischem Groll in sich, das unter bestimmten Umständen plötzlich explodieren kann. Bei manchen Paaren kommen diese Explosionen schnell vor und zerstören eine aufkeimende Beziehung schon bei den ersten Begegnungen. Bei anderen richtet die Stimmung von mangelnder Liebe erst später in einer scheinbar glücklichen Ehe verheerenden Schaden an, wenn einer oder beide Partner eines Tages aufwachen und feststellen, dass sie sich nicht wirklich gesehen oder erkannt fühlen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass lange verheiratete Ehepartner Dinge sagen wie: „Ich weiß, dass mein Mann mich liebt, aber irgendwie fühle ich mich nicht geliebt.“
Manchmal zeigt sich die Stimmung von mangelnder Liebe in endlosem Gezänk und Irritation über Kleinigkeiten, so als wollten beide Partner ständig nach Gründen suchen, um sich zu beklagen: „Warum liebst du mich nicht mehr?“.

Ein Paar, mit dem ich arbeitete, beschrieb z.B. folgenden Vorfall, der zu einer einwöchigen Entfremdung geführt hatte. Die Frau hatte ihrem Mann gerade Tee gemacht, als er sie anfuhr, weil sie Milch hin eingetan hatte. „Hab ich dir nicht gesagt, dass ich nicht möchte, dass du mir Milch in den Tee gießt, sondern dass ich ihn zuerst lange ziehen lassen möchte?“ Der einzige Weg zu verstehen, wie so etwas Triviales einen so großen Konflikt auslösen kann, besteht in der Erkenntnis, was ihre Handlung für ihn bedeutet: In seinen Augen hat sie ihm wieder einmal gezeigt, dass sie nicht auf ihn und seine Bedürfnisse eingeht – so wie all die anderen Frauen in seinem Leben, angefangen bei seiner Mutter. Und ihr zeigt die Tatsache, dass selbst so etwas wie ihm Tee zu machen schon zu einem Auslöser von Tadel und Ärger wird, erneut, dass sie seine Liebe niemals gewinnen kann, egal was sie tut. Hinter diesem unbedeutenden Vorfall lauert der uralte Schmerz, sich nicht geliebt und geschätzt zu fühlen, den beide Partner hier erneut inszenieren.

Als praktizierendem Psychotherapeuten geben mir die Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit der Stimmung von mangelnder Liebe, die sich trotz genügender Beweise des Gegenteils (so etwa wenn uns die Menschen in unserem Leben sehr wohl lieben) oder trotz langjähriger Psychotherapie oder spiritueller Praxis in der menschlichen Psyche halten kann, Rätsel auf. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass die Stimmung von mangelnder Liebe jegliche vorhandene Liebe zurückweisen, heruntermachen oder zerstören kann. Irgendwie scheint die Liebe, die erhältlich ist, immer mangelhaft zu sein – sie reicht nicht aus, sie ist nicht gut genug oder nicht von der richtigen Art. Irgendwie kann sie uns nicht davon überzeugen, dass wir wahrhaftig geliebt werden oder wahrhaft liebenswert sind. Auf diese Weise lässt uns die Stimmung von mangelnder Liebe – als Erwartung, dass wir nicht ganz angenommen oder akzeptiert werden könnten – uns derjenigen Liebe gegenüber verschließen, die uns eigentlich davon befreien könnte.

Als Ergebnis davon „hat man zwei Wahlmöglichkeiten im Leben: Man kann allein bleiben und sich unglücklich fühlen oder heiraten und wünschen, man wäre tot“, wie H.L. Mencken mit einem Anflug von trockenem, schwarzen Humor schrieb. Wenn ich diesen Satz bei Beziehungsseminaren vortrage, ruft er immer schallendes Gelächter hervor, da die Menschen Erleichterung verspüren, wenn dieses grundlegende menschliche Dilemma beim Namen genannt wird. Wenn wir im Bann der Stimmung von mangelnder Liebe stehen, ist das Allein-Leben elend, weil wir uns verlassen fühlen. Und dennoch ist Heiraten keine Erlösung von dieser Not, weil das tägliche Zusammenleben mit jemandem das Gefühl von mangelnder Liebe weiter verstärken kann und es sogar noch mehr zur Hölle werden lassen kann.

Wie können dann Menschen mit gebrochenem Herzen wie wir diese Verwundung im Zusammenhang mit der Liebe heilen, die über Generationen hinweg weitergegeben worden ist, und uns von den Auseinandersetzungen befreien, die unsere Welt beherrschen? Das ist das entscheidendste Thema des menschlichen Lebens, individuell und kollektiv gesehen. Es ist auch das zentrale Interesse dieses Buches.

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