Tipp: „Freundlichkeit: Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend“
Adam Phillips und Barbara Taylor
Rezension von Mary Warnock erschienen im The Guardian/The Observer
Adam Phillips ist ein Psychoanalyst, Barbara Taylor Historikerin – insbesondere eine Historikerin der Ideen. Sie erforschen gemeinsam das Konzept der „Freundlichkeit“, ihren Status unter den menschlichen Qualitäten und Attributen sowie den Wert, der ihr während der Jahrhunderte zugeschrieben wurde.
„Freundlichkeit ist ein grobes Äquivalent zur nicht-erotischen Liebe der Christen, oder Wohltätigkeit, obwohl es als Tugend und Quelle von Freude von Cicero bezeichnet wurde wie auch vom Stoiker und Eroberer Marc Aurel. Davor wurde sie vom heiligen Paulus in den Briefen an die Korinther hoch gelobt. Wohltätigkeit, ausser im begrenzten Kontext von Organisationen wie Oxfam u.ä., ist kein populäres Attribut heutzutage – eher als oppositionell gegenüber Gleichheit und der Anerkennung von Rechten angesehen. Teil des Zweckes dieses Buches ist, Freundlichkeit als etwas zu rekultivieren, das notwendig ist für unser persönliches und gemeinschaftliches Wohlbefinden. Das scheint mir ein bewunders- und äußerst schätzenswertes Ziel.
Freundlichkeit anderen gegenüber kommt von Anteilnahme. Wie die Autoren anmerken gibt es zahlreiche Nachweise, dass auch andere Tierarten als die menschliche Spezies sich in das Leiden und die Ängste von anderen ihrer Art hineinversetzen können. Aber es sind die Menschen allein, die aufgrund ihrer imaginativen Ausstattung, sich in das Gefühl hineinversetzen können von jemanden, der weit weg von ihnen ist, den sie nicht sehen oder berühren können, aber dessen Not sie als Mensch teilen können.
Im Lukasevangelium erklärt Jesus einem Anwalt, dass er – um gut zu leben – seinen Nächsten wie sich selbst lieben muss. Auf die Frage, wer als sein Nächster zählt, anwortet Jesus mit der Geschichte des guten Samariters – für viele die Essenz des Christentums. Freundlichkeit entsteht hier spontan, nicht in Gehorsam zu einer Regel, img Gegenteil sogar in Missachtung von Konventionen. Aber sobald das Christentum mehr und mehr kirchlich und hierarchisch wurde und mit der konsequenten Korruption der Priesterschaft, wurde der gute Samariter vergessen.
Der neue Protestantismus erklärte den Mensch als fundamentalen Sünder, und gute Taten waren abhängig von der Gnade Gottes. So erschien die Möglichkeit von natürlicher Freundlichkeit. Auf der anderen Seite präsentierte im 17. Jahrhundert der Atheist und Materialist Thomas Hobbes ein Bild des menschlichen Lebens, das von ständigem Kampf um Macht, einem Krieg aller gegen alle geprägt sei, das lediglich durch die absolute politische Herrschaft eines Machthabenden zivilisiert werden könne.
Es war Hume, der bei weitem menschlichste und vorausschauendste Philosoph, der in seiner Treatise über die menschliche Natur (1740) die Sympathie und das Mitgefühl als eine notwendige Basis der Moral einführte. Er bestand darauf in seiner späteren Arbeit, dass Mitgefühl für andere von allen erfahren würde und so ein Teil der menschlichen Natur sei. Der stärkste Vertreter von der natürlichen Gutheit der Menschen war jedoch Rousseau, dessen Einfluß in der Romantik in Europa nicht genug hevorgehoben werden kann.
Der faszinierendste Teil dieser Geschichte ist, wie die großen Philantropisten des 19. Jahrhunderts, die industriellen Giganten, die Gründer von Schulen, Krankenhäusern und Universitäten, verleumdet wurden sowie Wohltätigkeit unseriös wurde – eine leicht getarnte Form des Imperialismus, eine Geltendmachung von Macht oder eine Beschwichtigung von Schuld.
Nach einer lesenswerten und fesselnden kurzen Geschichte der Freundlichkeit (oder Wohltätigkeit) lassen Phillips und Taylor zwei Kapitel folgen, die das Konzept psychoanalytisch betrachten. Das könnte wie ein kleiner Schock auf den Leser wirken. Es geht nicht um die verbreitete Schwierigkeit, besondere Geschichtsfälle auf Allgemeinheiten und Trends zu beziehen, sondern eher dass das System der Psychoanalyse eine vorübergehende Zurückstellung von Skepsis erfordert, welche die meisten von uns nicht spüren, wenn es um Historie geht. Dort verlieren wir uns in der Geschichte, können Trends erkennen und sagen „Genau so.“ Aber aufgrund der Emotionen und Impulse von Individuen welche die Psychoanalysten untersuchen – Aggressionen, Wünsche, Hass und Liebe etc. – und welche großteils sogar ihnen verborgen bleiben (ausser bei sehr langer Behandlung), hat man ständig den Wunsch zu sagen „Kapier ich nicht“. Die Dinge werden etwas leichter, wenn Freud hinter einem liegt und wir zu Psychoanalysten wie Bowlby und Winnicott kommen. Die Idee, dass dauerhafte, gegenseitige Liebe oder Toleranz zwischen Eltern und Kindern sich nicht entfalten kann, bevor beide Seiten die schlimmsten Tiefen des anderen kennen und lernen, den anderen so zu akzeptieren, wie er ist, scheint von profunder Wahrheit. Das ist mit Sicherheit Freundlichkeit.
Die Zusammenführung der zwei Teile des Buches wird im letzten Kapitel vollzogen. Die Psychoanalyse hat laut den Autoren deutlich gemacht, was die Historie offen demonstriert und die Philosophie manchmal bestritten hat, dass „menschliche Wesen … ambivalente Kreaturen sind. Freundlichkeit kommt auf natürliche Weise zu uns – wie auch Grausamkeit und Aggression.“ Mitgefühl ist eine Tugend. Hume würde es eine natürliche Tugend nennen, aber wir sind leicht versucht unser Mitgefühl zu unterdrücken, was immer riskant ist und manchmal sogar zu Versagen führt.
Ich hoffe, dass die Kürze des Buches nicht gegen es verwendet wird. Ich kann dieses konzentrierte Essay über ein abgegrenztes, aber so wichtiges Thema nicht hoch genug würdigen.
Zum Artikel/Rezension im Original „Humanity’s gift that keeps on giving“. Dies ist eine leicht gekürzte Fassung der Rezension und vom Karuna Team ins Deutsche übersetzt.
Original: Adam Phillips/Barbara Tayler „On Kindness“, 2010; Auf Deutsch erschienen bei Klett-Cotta.
Die Kurzrezension von Deutschlandradio Kultur: Historikerin Barbara Taylor und Psychoanalytiker Adam Phillips widmen dem Thema Freundlichkeit einen Essay.
„Der Mangel an Freundlichkeit ist nicht nur in bestimmten Regionen Deutschlands auffällig, auch andere Nationen haben da offenbar ihre Probleme, jedenfalls widmen zwei Briten, die Historikerin Barbara Taylor und der Psychoanalytiker Adam Phillips, dem Thema einen Essay. Sie untersuchen die unterschiedlichen Spielarten und die doppelten Böden einer scheinbar angestaubten Tugend. Unsere Spezies ist zwar schrecklich eigensüchtig, und doch ist – nach Rousseau – ein menschliches Wesen ohne freundschaftliche Bindungen entweder ein Phantom oder ein Wahnsinniger. Die Autoren plädieren für eine unromantische, eine zeitgemäße Freundlichkeit. Und dass sie nur kaschierter Egoismus sei, wollen sie nicht gelten lassen. Ein kluges Büchlein – und ein leidenschaftliches. Also bitte lächeln!“ Zum Original.