Momente der Abscheu – Karen Kissel Wegela

„Momente der Abscheu präsentieren uns eine Weggabelung”
Karen Kissel Wegela

Mark erzählte mir über seine Erfahrung mit seiner letzten Partnerin: “Es war wieder dasselbe. Ich bin in einer Beziehung, in der ich unterstützend und ermutigend bin, aber meine eigenen Bedürfnisse werden nicht berücksichtigt.“

Immer wieder findet Mark sich in solchen Dynamiken wieder – nicht nur mit einer Partnerin, sondern mit Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern, die sich auf seine Hilfe verlassen, aber keine Unterstützung an ihn zurückgeben. Was ihn betrifft, sieht er sich als hilfsbereite und gute Person ohne sich der unangenehmen Ängstlichkeit stellen zu müssen, sich in seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit zu zeigen.

Ich habe letztens Studenten von mir gefragt, wie sie sich fühlen, wenn sie solche Gewohnheiten bei sich selbst bemerken. Viele reagierten ähnlich wie Mark. Sie beschrieben ihre Enttäuschung, Scham, Schuld oder Wut auf sich selbst deswegen. Carla berichtete über ihre fast zwanghaften Einkaufstouren, bei denen sie Dinge kauft, die sie weder braucht noch besonders mag. „Ich glaube es nicht! Ich habe es schon wieder getan! Sperrt mich weg, es ist nicht sicher, mich auf die Strasse zu lassen!

Als die Klasse das Thema näher untersuchte, stellte sich heraus, dass die meisten ein unbeschreibliches “yeccchhh!” fühlten, wenn sie sich mitten in diesen ungewollten Gewohnheitsmustern wiederfanden. In der kontemplativen Psychologie sehen wir diese Erfahrung von Selbstabscheu als vielversprechend an, als ein Zeichen von geistiger Gesundheit. Denn wenn Abscheu aufkommt, erkennen wir, dass unser Verhalten uns und möglicherweise anderen schadet.

Jemand der wiederholt Alkohol missbraucht und sich hinters Steuer setzt, Eltern, die die Kontrolle verlieren und ihre Kinder anschreien, Teenager, die durch ungeschützten Sex eine Krankheit riskieren – alle fügen potentiell anderen Schaden zu mit ihrer Unachtsamkeit. Andere weniger ernste Gewohnheitsmuster – wie Bequemlichkeitslügen, die Rückmeldung von Kollegen ignorieren, Computerspiele spielen statt mit anderen zusammen zu sein – können ebenfalls Schaden für sich selbst und andere nach sich ziehen.

Alle gewohnheitsbasierten Verhaltensmuster gründen auf der Ignoranz dessen was wirklich geschieht. Wenn wir uns Gewohnheitsmustern hingeben, vermitteln sie uns den falschen Eindruck, dass wir die Dinge fest und gleich halten können. Wir benutzen dasselbe Verhalten wieder und wieder, schaffen so ein falsches Selbst eines permanenten Selbst, weil wir hoffen, dass wir so einen Ausweg von Schmerz gefunden haben.

Wir nutzen diese Muster, um uns von der Schärfe und Verletzbarkeit der Gegenwart zurückzuziehen – im Grunde vom Lebendig Sein. Wir nutzen sie aus Bequemlichkeit, aber stattdessen tendieren die Muster sich selbst zu verstärken. Sie entwickeln ein Momentum und werden immer schwieriger auszumachen bist wir das Glück haben, an einem bestimmten Punkt Abscheu zu empfinden.

In dem kurzen Moment bevor wir die Abscheu spüren, haben wir ganz klar gesehen, was wir eigentlich tun. Vielleicht fühlen wir echten Kummer darüber, wie wir uns und andere bemogelt haben. Wir spüren Reue, wenn wir erkennen, dass wir jemand wirklich geschadet haben.

Wenn wir diese Abscheu erfahren, erkennen wir auch, dass wir verantwortlich dafür sind, was wir tun. Bevor wir nicht unseren eigenen Anteil an einem Problem anerkennen, fühlen wir keine Abscheu. Stattdessen beschuldigen wir weiterhin andere. Sozialarbeiter, die mit Tätern der häuslichen Gewalt zu tun haben, wissen dass die Erfahrung der Selbst-Abscheu ein Zeichen ist, dass die Person beginnt die Verantwortung für seine Handlungen zu akzeptieren. Das Gefühl von „yeccchhh“, ein grummeliges Gefühl in der Magengegend, ist also eine gute Nachricht. Es ist ein Zeichen von Achtsamkeit und es präsentiert ein kraftvolles Potenzial.

Die Momente von Abscheu bieten uns eine Gabelung auf dem Weg. An diesem Punkt kann die Erkenntnis, was wir getan haben, in Selbstaggression umschlagen. Wie Carla es beschrieben hat, können wir uns mit Gedanken über unsere Wertlosigkeit eindecken und beschließen dass wir ein verlorener Posten sind. Wir können uns in Depression und Hoffnungslosigkeit begeben. Oder wir nehmen die Selbst-Aggression, sammeln Groll an und beschuldigen andere, für etwas das eigentlich unsere Verantwortung ist. Also ein Weg ist die Aggression – gegen einen selbst oder andere.

Der andere Weg ist, den Moment der Abscheu als gut zu erkennen: wir haben begonnen, zu sehen, was wir wirklich tun. Es kann dazu führen, was wir klassischerweise Abkehr nennen. Wir können uns selbst verpflichten, das abträgliche Muster nicht mehr zu verfolgen. Wenn wir sorgfältig untersuchen, wie das Muster funktioniert oder abläuft, können wir die in sich tragende Ignoranz und Selbstverständlichkeit überwinden. Der Schlüssel, um Gewohnheitsmuster zu ändern, liegt darin, willens zu sein, direkt zu erfahren, was aufkommt wenn wir ihnen nicht nachgeben. Für Mark bedeutet das, willens zu sein, sich unangenehm und verletzlich zu fühlen.

Manchmal müssen wir dabei schrittweise vorgehen. Noch wichtiger als Achtsamkeit und Klarheit bei diesem Prozess ist die Freundlichkeit mit sich selbst. Wir müssen eine nicht-aggressive Einstellung zu uns selbst kultivieren. Wir machen uns nichts vor und sagen, es ist okay wenn wir uns oder anderen schaden, aber wir strafen uns auch nicht und halten uns für eine böse Person.

SONY DSCWir können anderen helfen, wenn sie die Weggabelung – repräsentiert durch die Selbst-Abscheu – vor sich haben. Wir können sie darin unterstützen, dass ihre Intelligenz sie an diesen Punkt gebracht hat und sie ermutigen mit Freundlichkeit, daran zu arbeiten. Im Grunde unseres Herzens will niemand sich selbst oder anderen Schmerz zufügen. Es ist nur ein bisschen zur Gewohnheit geworden.

Leicht gekürzt. Artikel „Black Friday and Mindfulness“ von Karen Kissel Wegela unter mindful.org, übersetzt vom Karuna Team.